1. Essay für die Ruhrtriennale ´22 über das Buch Streulicht von Deniz Ohde
Ich würde es den Kampfhund der Jugend in uns nennen, der betäubt oder hypnotisiert wird (durch Bücher, Filme, Musik, Theater), meinen betäubte zuletzt Deniz Ohde mit ihrem Roman Streulicht. Oft habe ich mich allein gefühlt mit zwölf oder dreizehn Jahren, auch noch später. Ich war verwachsen, klebte an mir selbst fest durch ängstlichen Pupertätsschweiß, vor allem ausgelöst durch Autoritäten, die es gut mit mir meinten, mir aber den Eindruck vermittelten, ich sei anders, gehöre woanders hin, in ein anderes Land oder gar auf einen anderen Planeten. Hinzu kamen meine Eltern, die viel geleistet hatten, damit ich in dem Land aufwachsen durfte, in das ich nicht zu gehören schien, ich beschämte sie, wurde zum Klassenclown, hatte in der Gemeinschaft Platz als dieser und als schlechteste Schülerin der gesamten Stufe. Zudem verband ich nichts Schönes mit mir, weder äußerlich noch innerlich. Es gab keine Worte für diese Einsamkeit, an die sich manche von Ihnen erinnern werden in diesem Alter. Mit »diese Einsamkeit« meine ich nicht meine spezifische-, die weitaus vielschichtiger war als ich sie hier beschreibe, denn natürlich war ich auch immer mal wieder fröhlich, ich meine Ihre eigene-, die sich vielleicht ebenso wenig mitteilen ließ wie meine. Es passierten nach und nach vermehrt schlimme Dinge in meinem jugendlichen Leben, weil sich schlimme Dinge bekanntlich anziehen, und wenn ich Momente der Rettung beschreiben soll, waren es Sätze, die irgendwer anders geschrieben hatte, der vielleicht gar nicht mehr lebte oder wenn er doch noch lebte oder sie oder es, dann wohl auch wie ich in keinem Land oder keiner Stadt, sondern auf diesem anderen Planeten. Ich las diese Sätze und fand die Worte, die mir fehlten; laut aussprechen konnte ich sie dennoch nicht.
Das Buch Streulicht von Deniz Ohde schenkte mir mein Partner, als wir auf einer Reise waren und ich erinnere mich, dass ich es unter dem blausten Himmel und vor dem weitesten Meer las. Was ich las konnte ich nicht zuordnen, es zog mich an und zwischen dem Buch und mir tauchte dieses heranwachsende Mädchen auf, das damals keine Worte hatte. Ich würde das als einen großen Trost bezeichnen, einen Glücksgriff, denn wir können uns auch nachträglich trösten lassen, das wurde mir durch Streulicht klar. Ich möchte dieses Buch allen ans Herz legen, die ihre Eltern entheiligt haben und sie trotzdem lieben, allen, die keine Worte fanden als Backfische, allen, die die Gabe haben ein Buch aufzuschlagen, um darin die Sprache zu finden, die ihnen selbst fehlte. Und wenn ich heute - zwei Tage nach Beginn des Krieges in der Ukraine oder fast acht Monate nach Abzug der Truppen aus Afghanistan, ich könnte diese Aufzählung weiterführen - wenn ich also heute an die Kinder und Jugendlichen denke, die mit etwas Glück in einem Land aufwachsen werden, das sicherer ist als das Land, in dem sie geboren wurden, das ihnen aber zunächst fremd sein wird, dann wünsche ich ihnen, dass sie Bücher wie Streulicht lesen können, die sie sofort oder Jahre später trösten.
Sarah Sandeh, Berlin, 26. Februar 2022
2. Die Guten sind auch schlecht
Anpassung war ein großes Thema für meine Eltern, und vor allem, wenn mir Autoritäten ungerecht und vorurteilshaft begegneten, beschämte ich sie, in dem ich als Kind nicht freundlich reagierte. Es gab einen Instinkt, der mir noch oft Ärger einbringen sollte, gewisse Grenzüberschreitungen nicht wegzulächeln. Ich wollte in die Gemeinschaft aufgenommen werden, aber nicht weil ich freundlicher war als alle anderen, sondern weil ich ein Recht hatte da zu sein, das konnte ich damals natürlich noch nicht formulieren.
Auf meinem linken Gymnasium hatte ich eine Deutschlehrerin, die ich hier namentlich nennen möchte: Frau Müller-Berghüser. Sie trat während des Diktats in der fünften Klasse vor meinen Tisch und artikulierte für mich die Wörter überdeutlich; dabei klatschte sie jeden Satz rhythmisch vor. Zuvor sprach sie den gleichen Satz ganz normal aus, für alle anderen.
Ich konnte nicht mehr schreiben.
Im Lehrerzimmer herrschte Einigkeit darüber, dass mit mir etwas nicht stimmte; ich schrieb nicht mit und machte ständig Witze. Schlechte Witze, fanden die Lehrer und manche Mitschüler. Meiner Mutter wurde nahe gelegt, mich auf die Sonderschule zu schicken, doch fiel der Intelligenztest, den ich dafür machen musste, zu gut aus. Amtlich war also mit meinem Kopf alles in Ordnung.
Mit dieser Gewissheit und Rachegefühlen gegenüber Frau Müller-Berghüser wechselte ich an eine christliche Privatschule, wo ich kein Problemkind mehr war, das besonderer Fürsorge bedarf. Nach und nach renkte sich mein Körper und Gesicht ein, vorher war ich eine traurige Gestalt. So lernte ich früh, dass nicht alle Linken toll und alle Konservativen doof sind. In meiner Welt war es zunächst umgekehrt. Ich liebte den Deutschunterricht bei Frau Wagner, einer strengen, blassen Frau, die Woyzeck und Faust mit uns las. Diese Kombination aus kalter Umgebung und für mich unerhörten Texten brachte mein Herz zum Überlaufen und kurbelte meinen Verstand an: Einser-Abitur, nur leider hat’s Frau Müller-Berghüser nie erfahren.